* 15 *

15. In der Dachkammer

 

Septimus

Marcellus führte sie in eine kleine Dachkammer mit Schrägen und Holztäfelungen an den Wänden. Die einzigen Möbel waren ein alter, auf Böcke gestellter Tisch mit zwei Bänken und ein paar Stühle, die sich an den Wänden reihten und die der frühere Besitzer, Weasal Van Klampff, zurückgelassen hatte. In der Mitte des Tisches leuchtete ein ganzer Strauß von Kerzen, die, von der Haushälterin am Morgen entzündet, schon halb heruntergebrannt waren.

Als Septimus hinter Marcellus die Kammer betrat, durchzuckte ihn die Erinnerung wie ein Blitz – vor gar nicht langer Zeit war das sein Zimmer gewesen. Und doch lag diese Zeit, wie er wusste, so weit zurück, dass es unmöglich schien. Hier, in diesem Zimmer, hatte er die ersten Nächte in Marcellus Pyes Zeit verbracht, und ein Alchimieschreiber hatte vor der Tür geschlafen, um ihn an der Flucht zu hindern. Hier hatte er alle möglichen verrückten Pläne geschmiedet, die ihn in seine Zeit zurücbringen sollten, hier hatte er stundenlang am Fenster gesessen, auf die Straße geblickt und sehnsüchtig nach einem vertrauten Gesicht Ausschau gehalten. Es war bestimmt nicht sein liebster Platz auf der Welt, aber jetzt war er wieder hier, zusammen mit Beetle und Jenna. Das hätte er nie für möglich gehalten. Mit einem Mal fühlte er sich sehr sonderbar. Er sank schwer auf eine der Bänke am Tisch.

Beetle und Jenna setzten sich neben ihn, und bald schauten drei Gesichter erwartungsvoll zu Marcellus Pye auf. Marcellus erwiderte ihre Blicke mit verwirrter Miene. »Also ... äh ... aus welchem Grund sind wir noch mal heraufgekommen?«, fragte er.

»Es geht um Nicko. Erinnern Sie sich?«, sagte Septimus hoffnungsvoll, obwohl er keine Ahnung hatte, warum Marcellus sie die vielen Treppen hier hoch in diesen Raum geführt hatte.

»Nicko?«, fragte Marcellus verständnislos.

»Nicko, mein Bruder. Er war in Ihrer Zeit gefangen. Sie müssen sich doch erinnern«, flehte Septimus mit leiser Verzweiflung in der Stimme. Er hatte Monate gebraucht, um diese Zusammenkunft zustande zu bringen, und jetzt ließ Marcellus wie üblich das Gedächtnis im Stich. Sollte alles umsonst gewesen sein?

»Ach so, ich erinnere mich«, rief Marcellus, und Septimus schöpfte wieder Hoffnung. »Wo habe ich denn meine Brille? Ich brauche sie nach wie vor. Das ist überaus lästig. Wo hab ich sie nur?«

»Auf Ihrem Kopf«, sagte Septimus müde.

»Tatsächlich.« Marcellus fasste nach oben und setzte sich die Brille auf die Nase. »Fein«, sagte er. »Ich brauche sie nämlich für Nickos Papiere.«

Eine Erregung befiel Septimus. Endlich ging es voran. Er lächelte Jenna an. Ihre Augen glänzten verdächtig, wie immer, wenn Nickos Name fiel.

Mit dem schlurfenden Gang eines alten Mannes – den Beetle auf die merkwürdigen Schuhe zurückführte – begab sich Marcellus zum Kamin und drückte auf ein kleines Fach oben in der Holztäfelung. Das Fach sprang mit einem leisen Knarren auf, und Marcellus nahm einen Stapel vergilbter, spröder Papiere heraus. Behutsam trug er ihn zum Tisch und legte ihn vorsichtig darauf.

Jenna hielt den Atem an. Die Blätter waren mit Nickos unverwechselbarer Handschrift beschrieben.

»Die haben Nicko und Snorri hier zurückgelassen«, erklärte Marcellus. »Ich habe sie in dem Geheimfach aufbewahrt, weil ich fürchtete, jemand könnte sie wegwerfen, denn ein ungeschultes Auge kann sie leicht für belanglose Notizen halten. Doch im Lauf der Jahre, und es waren viele, viele Jahre, vergaß ich das Versteck. Ja, Lehrling, ich habe mich erst vor ein paar Monaten wieder daran erinnert, als du mich nach deinem Bruder gefragt hast.«

»Damals konnten Sie sich nicht erinnern«, sagte Septimus.

»Das ist wahr. Aber dann fielen mir wieder Dinge aus meinem alten Leben ein. Und eines Tages, als ich in diese Kammer heraufkam, erinnerte ich mich. Vorübergehend. Danach bin ich Woche um Woche immer wieder hier heraufgestiegen, nur um mich dann zu fragen, was ich hier wollte. Doch als du mich das letzte Mal auf Nicko angesprochen hast, habe ich es mir aufgeschrieben. Ich trug die Notiz ständig bei mir, und als ich wieder hier hochkam, erinnerte ich mich. Ich erinnerte mich sogar an das Versteck, und zu meinem Erstaunen fand ich es unberührt vor. Deshalb habe ich dir die Nachricht geschickt, heute zu mir zu kommen.«

»Vielen Dank, Marcellus«, sagte Septimus.

»Das bin ich dir schuldig, Lehrling. Ich muss gestehen, dass Nickos Handschrift für mich schwer zu entziffern ist, aber vielleicht werdet ihr schlau daraus. Es wäre möglich, dass die Notizen eures Bruders ihre eigene Geschichte erzählen. Doch ich werde die Lücken füllen, so gut ich kann.«

Jenna nahm die Blätter vorsichtig in Augenschein. Die Tinte war zu einem matten Graubraun verblasst, und das Papier war dünn und fast so braun wie die Tinte. Trotzdem bestand kein Zweifel, dass das alles Nicko geschrieben hatte. Überall fanden sich Kritzelzeichnungen von Booten, Skizzen von Segelvorrichtungen, Spiele wie Schiffeversenken, Kreuz und Kreis, Galgenmännchen, dazu einige andere, die sie nicht kannte, und jede Menge Listen. Doch statt sich Nicko näher zu fühlen, fühlte sie sich ihm nur noch weiter entrückt beim Anblick seines Gekritzels auf diesem alten, spröden Papier. Während sie auf ein langes, dünnes Blatt starrte, spürte sie, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.

»Was steht denn da, Jenna?«, fragte Septimus.

»Er ... er hat eine Liste gemacht.«

»Typisch Nicko«, sagte Septimus. »Los, Jenna. Lies vor.«

»Na schön. Also, da steht:

• 2 Rucksäcke
• 2 Bettzeug (wenn erhältlich) oder Wolfsfelle vom Markt
•  Proviant für mindestens zwei Wochen. Auf dem Markt nach Gepökeltem erkundigen.
•  Kekse und Dörrobst
•  Zunderbüchse
•  Kerzen
• 2 Wasserflaschen oder etwas Ähnliches
•  Reiseerlaubnis? M. fragen
• 2 warme Mäntel
•  Stiefel, möglichst pelzgefüttert
•  Tante Ells’ Glückssocken – nicht vergessen
• 2 goldene Schmuckstücke für den Mautner
•  Dose für Snorris Kompass.«

Als Jenna mit der Liste durch war, begann das Papier zwischen ihren Finger zu zerbröseln. Sie legte es schnell auf den Tisch. »Ich ... ich frage mich, wohin er wohl wollte«, sagte sie.

»Irgendwohin, wo es kalt ist. Man kann eine Menge aus einer Liste herauslesen«, sagte Beetle, der selbst ein großer Freund von Listen war.

Die Vorstellung, dass Nicko in eine kalte Gegend aufbrach, noch dazu vor fünfhundert Jahren, gefiel Jenna ganz und gar nicht. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Leere überkam sie. Sie saß da und streichelte langsam Ullr, um sich zu beruhigen. Der Kater lag zusammengerollt auf ihrem Schoß und schien zu schlafen, doch Jenna wusste es besser. An der Art, wie er dalag, ganz still und leicht angespannt, wie zum Sprungbereit, merkte sie, dass er wachsam war.

Septimus blickte zu Marcellus. Er kannte seinen alten Meister gut genug, um zu wissen, dass er etwas zu sagen hatte, etwas Wichtiges. »Sie wissen etwas, Marcellus, nicht wahr? Bitte sagen Sie es uns.«

Marcellus nickte, sagte aber nichts. Er saß wie traumverloren am Ende des Tischs und starrte in die Kerzenflammen, die im Luftzug, der durch die Fensterritzen drang, flackerten. Dann schüttelte er seine Gedanken ab und schaute auf. »Zuerst«, sagte er, »machen wir es uns etwas gemütlicher.« Er stand auf, schlug auf altmodische Art einen Feuerstein und entzündete das Holz, das im Kamin aufgeschichtet war.

Als die Flammen an den Scheiten emporzüngelten, lehnte sich der Alchimist halb über den Tisch und begann langsam zu sprechen – eine Gewohnheit, die Septimus aus seinen Tagen als Alchimielehrling von ihm kannte und die ihm verriet, dass Marcellus uneingeschränkte Aufmerksamkeit verlangte. Aber an diesem Nachmittag konnte sich Marcellus über mangelnde Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auch nicht beklagen. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Begleitet vom fernen Rumpeln eines Donners – und einem viel näheren und peinlichen aus Beetles Magen – fing Marcellus an zu erzählen.

Septimus Heap 04 - Queste
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